Psychotherapeutenkammer Bayern

6. Bayerischer Landespsychotherapeutentag in München: Psychotherapie und Internet ... zwei kompatible Systeme?

Kernfragen des 6. Bayerischen Landespsychotherapeutentages (LPT) am 9. Mai 2015 waren: Mit welchen Gefahren müssen Nutzer/innen und Psychotherapeut/innen rechnen? Wo sind Chancen für die Prävention und Behandlung psychischer Erkrankungen? Welche Qualitätsanforderungen sind unverzichtbar? Kammerpräsident Dr. Nikolaus Melcop betonte: „Angebote zur Beratung oder Therapie über das Internet können die Diagnostik und Behandlung durch eine Psychotherapeutin oder einen Psychotherapeuten im persönlichen Kontakt nicht ersetzen und in besonderen Fällen nur dann ergänzen, wenn eine intensive und fachkundige Abwägung der Risiken und Chancen individuell für mögliche einzelne Nutzer durchgeführt wurde.“ Die Referent/innen stellten in den Vorträgen die technisch und fachlich fundierten Möglichkeiten des Internets für die Prävention und Behandlung psychischer Störungen vor und setzten sich kritisch mit den Auswirkungen dieser technischen Potenziale auseinander. Rund 350 Kammermitglieder nahmen am 6. LPT in München teil.

Nach den Grußworten von Dr. Georg Walzel, Ministerialrat im Bayerischen Staatsministerium für Gesundheit und Pflege, hob Kammerpräsident Dr. Nikolaus Melcop in seiner Einführung als Hintergrund des Themas des LPT zwei große Herausforderungen hervor, die sich der Gesellschaft heute stellen: die stark gestiegene Bedeutung psychischer Erkrankungen zusammen mit dem Bedarf nach psychotherapeutischer Behandlung und die weit reichende Lebensveränderung aller Menschen durch das Internet. Melcop betonte, dass der Einsatz des Internets keinesfalls Ersatz für eine Psychotherapie im persönlichen Kontakt sein könne. Die Möglichkeiten des Internets dürften nicht dem Wildwuchs und dem Profitstreben anonymer Netzbetreiber überlassen bleiben. Insbesondere in Bezug auf Information, Prävention und Behandlung bei psychischen Erkrankungen ergeben sich erhebliche Gefahren für die Nutzer/innen. Er forderte verbindliche Qualitätskriterien für Internetangebote und bei einem Einsatz die Anleitung durch Psychotherapeut/innen oder fachspezifisch qualifizierte Ärztinnen und Ärzte. Die Berufsordnung schreibt hier die Einhaltung strenger Sorgfaltspflichten vor, insbesondere in Bezug auf die Aufklärung von Patient/innen, die Diagnosestellung und den Einbezug in die Therapiedurchführung.

Nikolaus Melcop führte in die Thematik des 6. Bayerischen Landespsychotherapeutentags ein. Foto: Siegfried Sperl

Prof. Dr. Christine Knaevelsrud, Psychologische Psychotherapeutin und Professorin für klinisch-psychologische Intervention an der Freien Universität Berlin, ging im ersten Fachvortrag auf die neuen Kommunikationsmedien in der psychotherapeutischen Versorgung ein. Die Referentin gab einen Überblick über verschiedene Ansätze der Online-Therapie sowie deren Anwendungsbereiche und Spezifika des therapeutischen Settings im Internet. Exemplarisch erläuterte sie die Online-Therapie der posttraumatischen Belastungsstörung und der Depression und stellte anhand einzelner Fallvignetten den typischen Verlauf einer Online-Intervention mit ihren setting-spezifischen interaktionellen Besonderheiten dar. Knaevelsrud ging auch auf kritische Fragen ein, wie zum Beispiel, ob eine tragfähige therapeutische Beziehung ohne unmittelbaren, persönlichen Kontakt überhaupt entstehen könne und wie neue Medien additiv in bestehende therapeutische Angebote integriert werden könnten.

Die Referent/innen zusammen mit den Vorstandsmitgliedern und Dr. Georg Walzel, Ministerialrat im Bayerischen Staatsministerium für Gesundheit und Pflege (v. l. n. r): Anke Pielsticker, Benedikt Waldherr, Prof. Dr. Christine Knaevelsrud, Prof. Dr. Christian Roesler, Vizepräsident Dr Bruno Waldvogel, Präsident Dr. Nikolaus Melcop, Dr. Georg Walzel, Birgit Gorgas, Peter Lehndorfer, Jürgen Hardt und Dr. Veronika Brezinka. Foto: Siegfried Sperl
Jürgen Hardt, Gründungspräsident der LPK Hessen, stellte das Medium Internet aus kulturpsychologischer Sicht dar. Um das 'Internet' habe sich eine hermetische und mächtige Diskurswelt entwickelt, deren Logik nur durch Paralogie (Lyotard) zu durchbrechen sei. Neue Medien hätten immer, wie ein Blick in die Mediengeschichte zeige, ein hohes Spaltungspotenzial. Die Spaltung sei besonders am generational divide (Turkle) des Internetgebrauchs und seiner Bewertung deutlich. Weil das Medium Internet aber nicht nur Kulturtechnik, sondern zugleich auch Kulturobjekt (evocative object) sei, böte es zugleich Spaltung als naheliegende und primitive Lösung an. Die Spaltungen seien vielfältige: Verbreitung von Wissen als Information und Zerstörung von Bildung; Ausgestaltung und Auflösung des Subjekts; Intimität und Ende der Privatheit; Demokratisierung und zersplitternde Radikalisierung; Befreiung und totale Kontrolle; Vereinigung und Vereinzelung. Als Kulturtechnik setze das Internet zwar einerseits das Projekt der Moderne (Habermas) fort, kehre es zugleich aber in sein Gegenteil.
 
Vor dem Hintergrund von Forschungsarbeiten zur Bedeutung des Internets für die Anbahnung und Gestaltung von Paarbeziehungen stellte Prof. Dr. Christian Roesler, Professor für klinische Psychologie und Arbeit mit Familien an der Katholischen Hochschule Freiburg kritische Überlegungen zur virtuellen psychotherapeutischen Beziehung an. Die technischen Bedingungen der virtuellen Interaktion erzeugten neue Sozialformen, sie bildeten nicht einfach bestehende Sozialformen auf neuen medialen Ebenen ab, sondern wirkten wiederum in die sozialen Beziehungen hinein und veränderten diese, schüfen also neue Beziehungsformen und veränderten soziale Wirklichkeiten. Es wäre geradezu naiv und für die Psychotherapie potenziell auch gefährlich, anzunehmen, dass die bekannten Beziehungsformen sich einfach eins zu eins im virtuellen Feld abbilden würden. Der Referent plädierte für einen reflektierten Umgang mit neuen Interaktionsformen und internetbasierte Psychotherapie sowie für ein Bewusstwerden ihres gesellschaftlichen Veränderungspotenzials und möglicher Gefahren.

Dr. Dr. Veronika Brezinka, Zentrum für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Universität Zürich, erläuterte in ihrem Vortrag internetbasierte Interventionen in der psychotherapeutischen Behandlung von Kindern und Jugendlichen. Während internetbasierte Interventionen bei der Behandlung Erwachsener seit längerem üblich seien, fänden sie zunehmend auch Eingang in den Kinder- und Jugendbereich. In mehreren Ländern gäbe es Initiativen, evidenzbasiertes Behandlungswissen mit computerbasierten Behandlungsprogrammen oder Computerspielen therapeutisch umzusetzen. Allerdings gäbe es auch eine Vielzahl von zweifelhaften Angeboten, bei denen primär ökonomische Interessen zu vermuten seien. Therapeutische Computerspiele könnten, müssten aber nicht Teil eines Online-Behandlungspaketes sein. Dr. Brezinka skizzierte hierzu die an der Universität Zürich entwickelten Spiele „Schatzsuche“ und „Ricky und die Spinne“, die für den Einsatz in einer individuellen Kindertherapie gedacht seien.

Thema des Fachvortrags von Prof. Dr. Christiane Eichenberg, Professorin für klinische Psychologie, Psychotherapie und Medien an der Sigmund Freud PrivatUniversität Wien, waren internetassoziierte Störungen und ihre Behandlung. Neben dem empirisch belegten Nutzen des Internets für Prävention, Behandlung und Rehabilitation verschiedener psychischer Störungen könne die Internetnutzung jedoch auch zu klinisch relevanten Problemen führen. Immer häufiger suchten Patient/innen mit entsprechenden Problemen und Störungen daher die psychotherapeutische Praxis auf. Eichenberg unterteilte internetassoziierte Störungen in vier Gruppen: Exzessive Nutzungsformen (z. B. Online-Gambling), dysfunktionale Nutzungsformen (z. B. Online Selbstdiagnosen), deviante Nutzungsformen (z. B. Cybermobbing) sowie selbstschädigende Nutzungsformen (z. B. Suizid-Foren).

Der 6. LPT fand in der Alten Kongresshalle in München statt. Foto: Siegfried Sperl

 

Maßgeschneidertes Infotainment für Psychotherapeut/innen
Ein textakrobatisches und turbulentes Feuerwerk fränkischen Kabaretts des schlagfertigen Stand-up-Comedians und Kabarettisten Dr. Oliver Tissot war der passende humoristische Ausklang des 6. LPT. Tissots Improvisationen, Wortwitz, treffsichere Pointen, ausgefeilte Wortspiele und intelligent-hintergründige Bonmots zogen viel Beifall nach sich. Fazit: Ein furioser Auftritt mit hoher Gag-Frequenz.

Ein Ausklang mit viel Humor – Dr. Oliver Tissot zog ein kabarettistisches Resümee des 6. LPT. Foto: Siegfried Sperl

 

Pressekonferenz
Im Vorfeld des 6. LPT haben Kammerpräsident Dr. Nikolaus Melcop und Vizepräsident Dr. Bruno Waldvogel im Rahmen einer Pressekonferenz, die am 7. Mai 2015 im PresseClub München stattfand, gegenüber den Medienvertreter/innen in die Thematik eingeführt und die Pressemitteilung der PTK Bayern dazu vorgestellt. Darüber berichteten in der Folge mehrere regionale und überregionale Zeitungen und Nachrichtenportale. Die Pressemitteilung finden Sie hier.

Zwei Tage vor dem LPT fand im PresseClub München eine Pressekonferenz statt, die eine hohe Resonanz nach sich zog. Foto: Siegfried Sperl

 

Die Präsentationen der Fachvorträge der Referent/innen, die Presseunterlagen und weitere Infos finden Sie in den unten stehenden pdf-Dateien, die zum Downloaden vorbereitet sind.

 

 

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