Psychotherapeutenkammer Bayern

ADHS-Fachtagung in der Hanns-Seidel-Stiftung München: Fast 200 pädagogische Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen informierten sich in Vorträgen und Workshops

26. März 2010 - Das Bayerische Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen (StMAS) hat auf Initiative und mit Unterstützung der PTK Bayern und dem Landesverband der Betriebskrankenkassen in Bayern (BKK) am Donnerstag, 25. März 2010, in den Räumen der Hanns-Seidel-Stiftung München eine Fachtagung mit dem Titel „Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS) im Vorschulalter?“ veranstaltet. Tagungsleiter war Dr. Hans Eirich, Referatsleiter Frühkindliche Bildung und Erziehung am StMAS. Nahezu 200 pädagogische Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen, Fachberatung, Jugendämter und Regierungen nahmen daran teil. Im Fokus der Fachtagung stand die Aufklärung über das Krankheitsbild ADHS und dessen Therapiemöglichkeiten.

Nach der Begrüßung durch Johanna Huber, Leiterin der Abteilung VI „Familie und Jugend“ des StMAS, betonte Kammerpräsident Dr. Nikolaus Melcop in seinen Grußworten die Bedeutung eines multimodalen Vorgehens mit Psychoedukation, Elterntraining, Interventionen im Kindergarten, Psychotherapie und nur in den ganz eindeutigen Fällen auch mit Medikamenten. Für Bestürzung bei den Teilnehmern sorgte Dr. Melcops Information, dass nach neuesten Versorgungsdaten ein Drittel der Kinder und Jugendlichen mit ADHS überhaupt keine Behandlung erhielten und 40 Prozent ausschließlich medikamentös behandelt würden. Dass die verordneten Tagesdosen des Medikaments Methylphenidat zwischen 1995 und 2006 von 1,3 Mio. auf 39,3 Mio. um das 30fache angestiegen seien, erstaunte die Teilnehmer sehr. Werner Rychel, Vorstand der BKK, Landesverband Bayern, ergänzte in seinen Grußworten, dass die höchsten Verordnungsraten von ADHS-Medikamenten laut der BKK-Auswertung mit einem Anteil von knapp 60 Prozent bei den 10 bis 14-Jährigen anfielen. Aufgrund einer höheren Dosierung mit zunehmendem Alter seien aber die durchschnittlichen Kosten mit 630 Euro pro Jahr bei den 15 bis 19-Jährigen am höchsten. „Für uns sind diese Zahlen erschreckend, denn Methylphenidat bedingte Begleiterkrankungen, wie Herz- und Blutdruckprobleme sowie psychiatrische Störungen, sind noch zu wenig erforscht“, so Rychel.
ADHS-Fachtagung am 25. März 2010 in der Hanns-Seidel- Stiftung in München (v. l.): Dr. Hans Eirich, StMAS, Dipl.-Psych. Toni Mayr, Johanna Huber, StMAS, Prof. Bernhard Kalicki, Dr. Tanja Wolff-Metternich, Dr. Elisabeth Fremmer-Bombik, Kammerpräsident Dr. Nikolaus Melcop, Vizepräsident Peter Lehndorfer (Foto: Johannes Schuster)
Im ersten Fachvortrag informierte Dipl.-Psych. Toni Mayr, Staatsinstitut für Frühpädagogik München, Freie Universität Bozen, über die Früherkennung von Verhaltensauffälligkeiten sowie Möglichkeiten und Grenzen der Diagnostik. Die Früherkennung in Kindertageseinrichtungen sei als Prozess zu sehen. Wichtige Stufen seien dabei die gezielte Beobachtung der Kinder, die Reflexion von Beobachtungsergebnissen, dass Fallgespräch im Team, das Gespräch mit den Eltern sowie die Zusammenarbeit mit Fachdiensten. Den kompletten Vortrag von Toni Mayr finden Sie in der unteren Downloadliste.

Dr. Dipl.-Psych. Tanja Wolff-Metternich, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters an der Universität Köln, referierte zum Thema „ADHS im Vorschulalter: Symptomatik, Krankheit oder Normvariante?“. Die Referentin zeigte, dass bereits in der Phase des Vorschulalters deutlich ausgeprägte Symptome von Aufmerksamkeitsstörung, Impulsivität und motorischer Unruhe zu massiven Beeinträchtigungen führen und die Beziehungen des Kindes zu seinen Bezugspersonen und zu Gleichaltrigen deutlich belastet sein können. Darüber hinaus präsentierte sie Daten aus epidemiologischen Studien und gab einen Überblick über geeignete Diagnostikinstrumente zur Symptomerfassung für diese Altersgruppe sowie über sinnvolle präventive wie therapeutische Herangehensweisen. Den kompletten Vortrag von Dr. Tanja Wolff-Metternich finden Sie unten.
Kammerpräsident Dr. Nikolaus Melcop sagte an die Adresse der Erzieher/innen und Pädagog/inn/en wörtlich: „Ich bewundere Ihre verantwortungsvolle und schwere Arbeit, die meines Erachtens in unserer Gesellschaft noch immer nicht hoch genug geschätzt wird. Sie legen zusammen mit den Eltern der Kinder die Grundlage dafür, wie sich die Erwachsenen von morgen entwickeln.“ (Foto: Johannes Schuster)
Im dritten Vortrag von Dr. Dipl.-Psych. Elisabeth Fremmer-Bombik, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Amberg, ging es um „Regulationsstörung und gestörte Beziehung“. Frühe Regulationsprobleme stehen, so erklärte die Referentin, nur dann in Zusammenhang mit späteren Auffälligkeiten, wenn sie gehäuft und über einen längeren Zeitraum auftreten. Frühe Hilfen, welche die psychosozialen Umstände und die Interaktion zwischen Mutter und Kind verbessern, könnten Regulationsprobleme behandeln und damit die strukturelle Entwicklung des kindlichen Gehirns positiv beeinflussen. Das könnte in seiner Gesamtheit zu einem leichteren Verlauf einer genetisch angelegten ADHS führen. Den kompletten Vortrag von Dr. Elisabeth Fremmer-Bombik finden Sie unten.
Kammerpräsident Dr. Nikolaus Melcop (rechts) mit Vizepräsident Peter Lehndorfer (Foto: Johannes Schuster)
Die Teilnehmer der Fachtagung konnten am Nachmittag in Workshops, die von Prof. Dr. Dipl.-Psych. Bernhard Kalicki, Staatsinstitut für Frühpädagogik München, moderiert wurden, das Thema ADHS vertiefen. Die Workshops befassten sich mit dem Umgang mit Hyperaktivität, Impulsivität und Aggressivität in der Kindertageseinrichtung, mit den Kriterien des Erkennens von ADHS sowie mit der Aufklärung und Beratung von Eltern.

Vizepräsident Peter Lehndorfer war einer der Workshop-Referenten zum Thema „Hilfsangebote im Kontext von Kinder- und Jugendhilfe, Psychologie, Psychotherapie und Medizin“. Ausgehend von rund 4500 Psychologischen Psychotherapeut/inn/en und ca. 750 Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut/inn/en in Bayern erläuterte Lehndorfer die als wissenschaftlich anerkannt geltenden Verfahren und betonte, dass eine multimodale Behandlung als leitliniengerecht gelte. Darüber hinaus stellte er verhaltenstherapeutische Interventionen am Beispiel des Therapieprogramms für Kinder mit hyperkinetischem und oppositionellem Problemverhalten (THOP) sowie psychodynamische Ansätze vor. Wichtig für die Teilnehmer war zum Schluss zu erfahren, wie ein/e Psychotherapeut/in zu finden und wie die Kostenübernahme geregelt ist. Den kompletten Vortrag von Peter Lehndorfer finden Sie am Ende der Seite.

ADHS liegt vor, wenn unaufmerksames und impulsives Verhalten mit oder ohne deutliche Hyperaktivität ausgeprägt ist, nicht dem Alter und Entwicklungsstand entspricht und zu deutlicher Beeinträchtigung in verschiedenen sozialen Bezugssystemen und im Leistungsbereich von Schule und Beruf führt. Die Auffälligkeiten sollen länger als sechs Monate bestehen und bereits vor dem Alter von sieben Jahren vorhanden gewesen sein. ADHS ist die am häufigsten diagnostizierte kinder- und jugendpsychiatrische Störung. Prävalenzraten sind abhängig von den zugrunde gelegten Diagnosekriterien (DSM-IV, ICD-10), Alter, Erhebungsmethode und befragtem Personenkreis. Aus international an der allgemeinen Bevölkerung erhobenen Daten ergibt sich eine Häufigkeit von 9,2% (5,8-13,6%) für Jungen und 2,9% (1,9-4,5%) für Mädchen. ADHS belastet die erkrankten Kinder und Jugendlichen enorm, ist für die betroffenen Familien nur schwer zu beherrschen und überfordert durch Lern- und Verhaltensauffälligkeiten die Ressourcen von Kindergärten, Schulen und Ausbildungsstätten. Eltern sind häufig mit Schuldvorwürfen konfrontiert, die zu einer sehr ungünstigen Familiendynamik führen können.
Johanna Huber, Leiterin der Abteilung VI „Familie und Jugend“ des StMAS, begrüßte die rund 200 Teilnehmer in der Hanns-Seidel-Stiftung (Foto: Johannes Schuster)
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