Psychotherapeutenkammer Bayern

Veranstaltung „Dichtung und Wahrheit“: Rund 70 Teilnehmer/innen in der LMU München

01. Juli 2014 - Wie gehen wir damit um, wenn uns als Psychotherapeut/innen nicht die Wahrheit gesagt wird? Um diese Frage ging es am Samstag, 28. Juni 2014, im Rahmen der Fortbildungsveranstaltung „Dichtung und Wahrheit“. Ein zentraler Gegenstand gutachterlicher Tätigkeit, u. a. in den Rechtsgebieten des Straf-, Familien-, Aufenthalts- und Sozialrechts, ist die Bewertung der Glaubhaftigkeit von Aussagen über Erlebnisse und Beschwerden. Auch in Psychotherapien kann sich die Frage der Glaubhaftigkeit von Aussagen stellen.

Vizepräsident Dr. Bruno Waldvogel wies in der Eröffnung darauf hin, dass schwere Traumatisierungen, die sich so wie angegeben tatsächlich ereignet haben, gänzlich anders zu behandeln seien als entsprechende Phantasmen, die bewusst oder unbewusst gebildet wurden, um das Selbstbild zu modifizieren und Beziehungen zu steuern. Wörtlich sagte Waldvogel: „Schon allein aufgrund dieser nahezu gegensätzlichen Konsequenzen für das psychotherapeutische Vorgehen kommen wir also oft nicht um die Frage herum, ob wir eine Erzählung für wahr nehmen oder nicht. Auch wenn wir die Frage nicht entscheiden können oder wollen, müssen wir uns zu ihr verhalten.“ Da sich Psychotherapeut/innen natürlich davor scheuten, eine falsche Entscheidung zu treffen und dem Gesprächspartner unrecht zu tun, dürften Psychotherapeut/innen, die zu dem Gesprächspartner in einer therapeutischen Beziehung stehen, strukturell eher zu dem falsch positiven Fehler neigen, dem Gesprächspartner irrtümlich zu glauben, so Waldvogel. Auch als Sachverständige seien Psychotherapeut/innen natürlich nicht frei von strukturell bedingten Urteilstendenzen, die einen Bias, einen systematischen Urteilsfehler begründen können. Das sei der Grund, warum auch innerhalb der Profession der Psychotherapeut/innen zwischen Behandelnden und Begutachtenden gelegentlich gegenseitige Verdächtigungen und gegenseitiges Misstrauen festzustellen seien. „Neutral formuliert gibt es eine Tendenz, sich gegenseitig des jeweils entgegengesetzten Urteilsfehlers zu verdächtigen: Behandler werden falsch positiver Beurteilungen verdächtigt, Sachverständige werden falsch negativer Beurteilungen verdächtigt“, stellte Waldvogel fest.

Die Expert/innen und Referent/innen der Veranstaltung „Dichtung und Wahrheit“ (v. l.): Prof. Dr. Rainer Krause, Dr. Willi Pecher, Vizepräsident Dr. Bruno Waldvogel, Dr. Michael Svitak, Dr. Nina Spröber, Dr. Michael Worthmüller, Dr. Andreas Rose, Vorstandsbeauftragter Sachverständigentätigkeit und Forensik, sowie Dr. Steffen Dauer. (Foto: Astrid Petersdorff)

In ihren Vorträgen erläuterten Dr. Steffen Dauer, Institut für Rechtspsychologie Halle, und Dr. Michael Svitak, Leitender Psychologe der Schön Klinik Bad Staffelstein, für zwei unterschiedliche Gebiete, welche psychologischen Methoden entwickelt wurden, um die Beurteilung der Glaubhaftigkeit möglichst fehlerfrei zu gestalten. Die Fachreferenten informierten darüber, ob und wie die für Begutachtungen entwickelten Beurteilungskriterien auch in Psychotherapien von Nutzen sein können.

Prof. Rainer Krause, International Psychoanalytic University Berlin, und Dr. Nina Spröber, Psychologische Psychotherapeutin mit Fachkunde für Kinder und Jugendliche, befassten sich mit dem Stellenwert und der Handhabung unzutreffender Aussagen in Psychotherapien. Dr. Spröber fokussierte ihren Vortrag dabei speziell auf die Behandlung von Kindern und Jugendlichen, für die besondere Aspekte zu beachten sind.
 
Besonders kompliziert verhält es sich mit der Glaubhaftigkeit bei der Behandlung von Straftäter/innen, wenn diese sich durch die Präsentation eines bestimmten Verhaltens Straferleichterungen versprechen können. Über seine Lehren aus seinen zahlreichen Behandlungen von Straftäter/innen berichtete Dr. Willi Pecher, Leiter der Sozialtherapeutischen Abteilung Gewaltdelikte in der Justizvollzugsanstalt München. Dr. Michael Worthmüller, Chefarzt der Klinik für Forensische Psychiatrie im Klinikum am Europakanal Erlangen, erörterte die Faktoren „Richtig“ oder „Falsch“ aus forensisch-psychiatrischer Sicht.
 
In der Diskussionsrunde aller Referent/innen am Ende der Veranstaltung ergab sich als ein Fazit aus den meisten Vorträgen eine neue Fragestellung: Wie gehen wir damit um, dass wir oft nicht wissen können, ob uns die Wahrheit gesagt wird? Es stellt eine Herausforderung für Psychotherapeuten dar, eine solche Ungewissheit in sich halten zu können, dabei die psychische Realität eines Patienten anzuerkennen und ihm eine nicht auszuräumende Ungewissheit über die historische Realität erträglich und tolerabel zu machen.
 
Die Veranstaltung wurde von allen Referenten und vielen Teilnehmern als sehr gelungen und bereichernd bewertet.
TypDokument/DateinameDateigröße
Aussagepsychologische Beurteilung der Glaubhaftigkeit
Vortrag von Dr. Steffen Dauer
571.9 KB
Psychologische Methoden der Beschwerdevalidierung
Vortrag von Dr. Michael Svitak
855.2 KB
Stellenwert und Handhabung falscher Aussagen /Erinnerungen in der Psychotherapie
Vortrag von Prof. Dr. Krause
479.2 KB
Glaubwürdigkeit im Kontext von Psychotherapien
Vortrag von Prof. Dr. Krause
254.2 KB
Stellenwert/Handhabung falscher Erinnerungen/Aussagen in der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie
Vortrag von Dr. Nina Spröber
1.7 MB
Das Richtige im Falschen suchen? Lehren aus der Behandlung von Straftätern
Vortrag von Dr. Willi Pecher
2.1 MB
VOILA_REP_ID=C12576B1:002BE964